Im Shintoismus, Japans indigener Spiritualität, unterscheidet sich das Konzept der Gottheiten und ihrer Zuständigkeiten oft erheblich von westlichen oder abrahamitischen Religionen. Anstatt eines einzigen, allmächtigen Gottes oder klar definierten Göttern für spezifische Tugenden wie Gerechtigkeit, findet man im Shintoismus eine Vielzahl von Kami – Gottheiten, Geistern oder verehrten Entitäten –, die in allen Aspekten der Natur, des Lebens und der menschlichen Existenz präsent sind. Wenn man nach einem expliziten „Gott der Gerechtigkeit“ im westlichen Sinne sucht, wird man feststellen, dass eine solche direkte Entsprechung im Shintoismus nicht existiert. Das Konzept der Gerechtigkeit ist vielmehr in das umfassendere Verständnis von Ordnung, Harmonie, Reinheit und dem richtigen Verhalten innerhalb des kosmischen und sozialen Gefüges eingebettet.

Das shintoistische Verständnis von Ordnung und Harmonie
Das Fundament des Shintoismus liegt in der Verehrung der Natur und der Harmonie zwischen Menschen, Kami und der natürlichen Welt. Statt eines moralischen Kodex, der von einer übergeordneten Instanz diktiert wird, konzentriert sich der Shintoismus stark auf Reinheit (Harai) und Ausgleich. Unreinheit (Kegare) resultiert aus verschiedenen Handlungen oder Zuständen, wie Tod, Krankheit oder moralischem Fehlverhalten, und stört die Harmonie. Gerechtigkeit wird daher oft als die Wiederherstellung dieser gestörten Harmonie oder Ordnung verstanden.
Die Aufrechterhaltung der kosmischen und sozialen Ordnung ist eine zentrale Sorge. Wenn diese Ordnung gestört wird, können Katastrophen, Unglück oder Unheil folgen. Shintoistische Praktiken und Rituale zielen darauf ab, diese Harmonie wiederherzustellen, Unreinheiten zu beseitigen und die Beziehung zu den Kami zu pflegen. In diesem Sinne sind viele Kami indirekt mit der Idee der Gerechtigkeit verbunden, indem sie über bestimmte Bereiche wachen und sicherstellen, dass die Dinge in ihrer natürlichen und richtigen Ordnung bleiben.
Schlüssel-Kami und ihre Verbindung zu Ordnung und Ausgleich
Obwohl es keinen speziellen „Gott der Gerechtigkeit“ gibt, sind bestimmte Kami mit der Aufrechterhaltung der Ordnung, dem Schutz vor Unheil oder der Behebung von Ungerechtigkeiten assoziiert:
Amaterasu-Ōmikami: Die Sonnengöttin und Wächterin der Ordnung
Amaterasu, die Sonnengöttin und Oberhaupt des shintoistischen Pantheons, residiert in der Takamagahara (der Hohen Himmelebene). Sie symbolisiert Licht, Wärme und Leben und ist eng mit der japanischen Kaiserfamilie verbunden, die als ihre direkten Nachkommen gilt. Ihre Rolle ist primär die Aufrechterhaltung der kosmischen Ordnung und des universellen Lichts. Störungen dieser Ordnung, wie die Taten ihres brüderlichen Kami Susanoo, werden als schwerwiegend betrachtet und erfordern die Wiederherstellung des Gleichgewichts. Ihre Präsenz und ihr Licht können als eine Form der Gerechtigkeit interpretiert werden, indem sie die Welt in ihrer richtigen, geordneten Form hält und Chaos vertreibt.
Ōkuninushi-no-Mikoto: Herrscher des irdischen Reiches
Ōkuninushi war der Herrscher des irdischen Reiches (Ashihara no Nakatsukuni), bevor dieses an die Nachkommen von Amaterasu überging. Er ist bekannt für seine Rolle bei der Nationengründung, Medizin und Landwirtschaft. Seine Herrschaft wird oft als weise und geordnet beschrieben. Obwohl nicht direkt ein Gott der Gerechtigkeit, verkörpert er eine Form der gerechten und verantwortungsvollen Herrschaft, die für das Wohlergehen des Landes und seiner Bewohner sorgt. Seine Mythen beinhalten oft moralische Lektionen über Verantwortung und den richtigen Umgang mit Macht.
Susanoo-no-Mikoto: Der Kami des Sturms und des Wandels
Susanoo, der Bruder von Amaterasu, ist oft als ungestüm und zerstörerisch dargestellt. Seine Taten führten zu seiner Verbannung aus der Himmelebene. Später wird er jedoch zu einem Helden, der eine achtköpfige Schlange tötet und Ordnung in Izumo stiftet. Susanoos Mythos kann als eine Darstellung des Kampfes zwischen Chaos und Ordnung gesehen werden. Seine Verbannung ist eine Konsequenz seines Fehlverhaltens, während seine späteren heroischen Taten eine Form der Wiedergutmachung und Wiederherstellung der Ordnung darstellen. Auch wenn er nicht explizit für Gerechtigkeit steht, zeigt seine Geschichte, wie Taten Konsequenzen haben und wie Ordnung wiederhergestellt werden kann.
Sugawara no Michizane (Tenjin): Der Kami gegen Ungerechtigkeit
Vielleicht der Kami, der der westlichen Vorstellung eines Rächers oder Schutzpatrons gegen Ungerechtigkeit am nächsten kommt, ist Sugawara no Michizane, der als Tenjin verehrt wird. Sugawara no Michizane (845–903 n. Chr.) war ein herausragender Gelehrter, Dichter und Politiker der Heian-Zeit. Aufgrund politischer Intrigen wurde er ungerechtfertigt degradiert und ins Exil geschickt, wo er starb. Nach seinem Tod suchten Katastrophen und Unglücke die Hauptstadt heim, was viele als Manifestation seines zornigen Geistes interpretierten, der Gerechtigkeit suchte. Um seinen Geist zu beruhigen und weiteres Unheil abzuwenden, wurde er posthum rehabilitiert und als Tenjin deifiziert. Tenjin wird heute hauptsächlich als Kami der Gelehrsamkeit, Kalligraphie und der Prüfungen verehrt, aber seine Ursprungsgeschichte ist eng mit der Behebung von Ungerechtigkeit und dem Schutz vor den Folgen falscher Anschuldigungen verbunden. Gläubige bitten Tenjin oft um Erfolg in Studien und Prüfungen, aber auch implizit um Schutz vor unfairem Schicksal oder menschlicher Bosheit, die ihrem Erfolg im Wege stehen könnte.
Die Rolle von Ritualen und Gebeten
Im Shintoismus wird Gerechtigkeit nicht nur durch die Handlungen der Kami, sondern auch durch menschliche Praktiken gesucht und erhalten. Rituale der Reinigung (Harai und Misogi) sind essenziell, um Unreinheiten zu beseitigen, die die Harmonie stören und als Ursache für Unglück oder Ungerechtigkeit angesehen werden könnten. Durch die Teilnahme an diesen Ritualen und das Einhalten shintoistischer Prinzipien streben die Gläubigen danach, in Harmonie mit den Kami und der Welt zu leben.
Gebete (Norito) spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Gläubige können Kami in Schreinen besuchen, um Segen zu erbitten, Schutz zu suchen oder ihre Anliegen vorzubringen. Während es kein spezifisches Gebet gibt, das exklusiv für „Gerechtigkeit“ reserviert ist, können Gebete für Schutz, die Behebung von Unglück, Erfolg in Unternehmungen oder einfach für ein harmonisches Leben als Ausdruck des Wunsches nach einer gerechten und geordneten Existenz verstanden werden. Der Akt des Besuchs eines Schreins (Omairi) und das Darbringen von Opfergaben sind Akte des Respekts und der Kommunikation mit den Kami, die darauf abzielen, die Beziehung zu pflegen und das Wohlwollen der Kami zu sichern, was wiederum zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Abwehr von Ungerechtigkeit beiträgt.
Vergleich mit westlichen Konzepten
Der Hauptunterschied zwischen dem shintoistischen Ansatz und westlichen Vorstellungen liegt in der Personifizierung. Im Westen gibt es oft eine klare Figur, die Gerechtigkeit verkörpert und Urteile fällt (z. B. Justitia mit Waage und Schwert). Im Shintoismus ist Gerechtigkeit weniger eine Frage des Urteils durch einen spezifischen Kami und mehr eine Frage der Wiederherstellung des natürlichen Zustands der Harmonie und Reinheit. Fehlverhalten führt zu Unreinheit und Störung, die durch Reinigung und richtiges Verhalten behoben werden müssen. Konsequenzen folgen oft aus der Störung der Ordnung selbst, anstatt von einem Kami als Bestrafung auferlegt zu werden (obwohl zornige Kami, wie die ursprüngliche Interpretation von Tenjin, existieren können, wenn die Störung schwerwiegend ist).
Das Konzept von Wa (Harmonie) ist hierbei zentral. Ein gerechter Zustand ist ein Zustand des Wa, in dem alle Elemente – Menschen, Kami, Natur – in Balance sind. Ungerechtigkeit ist eine Störung dieses Gleichgewichts. Das Ziel ist nicht unbedingt die Bestrafung des Schuldigen (obwohl dies geschehen kann), sondern die Wiederherstellung des Gleichgewichts für alle Beteiligten und die Gemeinschaft als Ganzes.
Die Suche nach Gerechtigkeit im Alltag
Für Gläubige im Shintoismus bedeutet das Streben nach Gerechtigkeit im Alltag, ein Leben in Reinheit und Harmonie zu führen. Dazu gehört das Einhalten von Ritualen, der Respekt vor der Natur und anderen Menschen, das Vermeiden von Handlungen, die Unreinheit oder Störung verursachen, und das Bemühen um aufrichtiges und ehrliches Verhalten. Wenn Ungerechtigkeit erfahren wird, können Gläubige Trost und Beistand bei den Kami suchen, insbesondere bei Tenjin, und durch Gebete und Rituale versuchen, das gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Shintoismus keinen einzelnen „Gott der Gerechtigkeit“ im Sinne einer Gottheit kennt, die ausschließlich für moralisches Urteil und die Durchsetzung von Recht zuständig ist. Stattdessen ist das Konzept der Gerechtigkeit untrennbar mit den Kernprinzipien des Shintoismus verbunden: der Aufrechterhaltung von Ordnung und Harmonie (Wa), der Bedeutung von Reinheit (Harai) und dem Respekt vor den Kami und der Natur. Während Kami wie Amaterasu und Ōkuninushi für die kosmische und irdische Ordnung stehen, ist Sugawara no Michizane (Tenjin) der Kami, dessen Geschichte am engsten mit der Behebung von Ungerechtigkeit und dem Schutz vor ihren Folgen verknüpft ist. Die Suche nach Gerechtigkeit im Shintoismus ist ein fortlaufender Prozess der Pflege von Beziehungen zu den Kami, der Durchführung von Reinigungsritualen und des Lebens im Einklang mit den Prinzipien, die zur Harmonie des Kosmos beitragen.
Häufig gestellte Fragen
- Gibt es im Shintoismus wirklich keinen einzigen Gott, der für Gerechtigkeit zuständig ist?
- Nein, im Shintoismus gibt es keine einzelne Gottheit, die exklusiv als "Gott der Gerechtigkeit" im westlichen Sinne verehrt wird. Das Konzept der Gerechtigkeit ist diffuser und eng mit den Ideen von kosmischer und sozialer Ordnung, Harmonie und Reinheit verbunden.
- Welcher Kami kommt der Idee eines Beschützers gegen Ungerechtigkeit am nächsten?
- Sugawara no Michizane, verehrt als Tenjin, kommt dieser Vorstellung am nächsten. Seine Deifizierung erfolgte, um seinen zornigen Geist zu beruhigen, der als Folge von Ungerechtigkeit angesehen wurde, und er wird heute unter anderem als Schutzpatron gegen unfaire Umstände betrachtet, auch wenn seine Hauptverehrung der Gelehrsamkeit gilt.
- Welche Rolle spielen Rituale bei der Suche nach Gerechtigkeit?
- Rituale, insbesondere Reinigungsrituale (Harai), sind sehr wichtig. Sie helfen, Unreinheiten zu beseitigen, die als Störungen der kosmischen oder sozialen Ordnung angesehen werden und Unglück oder Ungerechtigkeit verursachen können. Durch die Wiederherstellung der Reinheit wird die Harmonie wiederhergestellt.
- Wie unterscheidet sich das shintoistische Konzept von Gerechtigkeit von dem anderer Religionen?
- Ein Hauptunterschied ist das Fehlen eines zentralen, allmächtigen Richters. Gerechtigkeit wird weniger als moralisches Urteil über eine Sünde verstanden und mehr als die Wiederherstellung eines natürlichen, harmonischen Zustands, der durch Unreinheit oder Störung beeinträchtigt wurde.
- Kann man Kami um Gerechtigkeit bitten?
- Ja, Gläubige können Kami in Schreinen durch Gebete und Opfergaben ihre Anliegen vortragen, einschließlich Bitten um Schutz vor Unglück oder um die Behebung von Schwierigkeiten, die als ungerecht empfunden werden. Der Fokus liegt dabei oft auf der Wiederherstellung des persönlichen oder gemeinschaftlichen Wohlergehens im Einklang mit der kosmischen Ordnung.
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