Wie kam es in Deutschland zur Industrialisierung?

Die Industrielle Revolution: Ursachen & Verlauf

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Die Industrielle Revolution, ein epochaler Umbruch in der Menschheitsgeschichte, wirft bis heute Fragen nach ihren genauen Ursachen auf, über die sich die Wissenschaft keineswegs einig ist. Die Debatte konzentriert sich meist auf zwei Kernfragen: Warum begann die Industrielle Revolution gerade in Großbritannien und nicht anderswo? Und warum ereignete sie sich zu dieser spezifischen Zeit und nicht früher oder später? Historiker sind sich zunehmend einig, dass eine Vielzahl von Faktoren zusammenwirkte, auch wenn keiner allein als zwingend notwendig betrachtet werden kann. Der Forscher Joel Mokyr fasste diese Faktoren 1999 in sieben Hauptkategorien zusammen: Geographie, Technologische Kreativität, Soziale Institutionen, Politik, Nachfrage vs. Angebot, Internationaler Handel und Wissenschaftskultur.

Was kam vor der Industrialisierung?
Jahrhunderts. Die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands in der Mitte des 19. Jahrhunderts war durch den Wandel der Landwirtschaft, die beginnende Industrialisierung und die zunehmende wirtschaftspolitische Integration geprägt.

Die Ursachen der Industriellen Revolution in Großbritannien

Betrachtet man die Geographie, so werden oft die reichen Kohlevorkommen Großbritanniens als Vorteil genannt. Paradoxerweise wird aber auch die Holzknappheit als treibende Kraft für die Nutzung neuer Energiequellen wie Kohle angeführt. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Verteilung der Ressourcen eher nationale Technologiepfade beeinflusste, wie die Spezialisierung Großbritanniens auf die Dampfmaschine im Gegensatz zur Schweiz, die sich der Uhrenherstellung und Ingenieurwissenschaft widmete. Die Insellage bot relativen Schutz vor Invasionen und ermöglichte den günstigen Küstenschiffverkehr. Doch Länder wie Irland oder die Niederlande mit ähnlichen Vorteilen wurden keine industriellen Vorreiter. Erst im Zusammenspiel mit technologischer Entwicklung konnten geografische Faktoren ihr volles Potenzial entfalten. Großbritannien hatte, Kanäle hinzugerechnet, deutlich mehr Wasserwege pro Fläche und Einwohner als Frankreich. Die Verfügbarkeit von Kohle und Eisenerz war ebenfalls nicht allein entscheidend, da Großbritannien diese Rohstoffe auch importierte und die Industrielle Revolution stark auf importierter Baumwolle basierte. Länder wie Belgien hatten Ressourcen, die Schweiz nicht, folgten aber dennoch schnell. Letztlich waren Energiequellen handelbar und substituierbar (Torf, Wasser, Wind). Eine subtilere geographische Idee ist, dass kleine Unterschiede selbstverstärkende Kettenreaktionen auslösten, z.B. die Kohlenutzung, die Erfindungen wie Pumpen förderte, oder die Schifffahrt, die positive Effekte auf andere Gewerbe hatte. Aber auch hier scheitern Vergleiche, etwa mit den Niederlanden als Seefahrernation.

Technologische Kreativität und Innovation

Obwohl die Dampfmaschine und Textiltechniken aus Großbritannien stammten, wurden viele bedeutende Erfindungen anderswo gemacht, besonders in Frankreich (z.B. Jacquardwebstuhl, Chlorbleichung). Mokyr argumentiert, dass Großbritannien zwar keinen absoluten Vorteil bei fundamentalen „Makroerfindungen“ hatte, aber einen komparativen Vorteil bei den schrittweisen Verbesserungen („Mikroerfindungen“). Zeitgenossen bemerkten, dass die Briten Meister der Anwendung und Perfektionierung waren. Das Bildungssystem war nicht formal stark, aber es gab ein großes Bedürfnis nach pragmatischem Wissen. Viele lernten durch Meister, Bibliotheken, Wanderlehrer und Mechanics’ Institutes. Dieses informelle System brachte herausragende angewandte Ingenieure hervor. Solange kein tiefes theoretisches Wissen nötig war, waren britische Experimentierer und Bastler unübertroffen. Instrumentenbauer, Uhrmacher, Eisenverarbeiter und Chemiker leisteten neben den berühmteren Erfindern wie James Watt wichtige Beiträge.

Soziale Institutionen und Werte

Großbritannien wird oft eine für die Industrielle Revolution „richtige Gesellschaftsstruktur“ zugeschrieben. Entscheidend sei, ob Reichtum eine Folge von Prestige (Adel) oder Prestige eine Folge von Reichtum ist. Nach der Stuart-Restauration ab 1660 soll der Einfluss des Reichtums auf den Status zugenommen haben, was die soziale Mobilität erhöhte. Ökonomischer Erfolg wurde mit umfassenderem Statusgewinn belohnt, wie das Beispiel des geadelten Schneidersohns Richard Arkwright zeigt. Die britische Gesellschaft sei materialistischer gewesen. Allerdings waren auch die Niederlande urbanisiert, kapitalistisch und bürgerlich, ohne Vorreiter zu sein. Frankreich ermöglichte den Adelskauf. Gregory Clark vertritt die Theorie, dass die Malthusianische Ökonomie Englands Eigenschaften wie Fleiß und Geduld belohnte und sich diese durch sozialen Abstieg der Oberschicht verbreiteten. Douglass North hob das Patentrecht (seit 1624 in Großbritannien) hervor, das Innovationen rentabler machte. Kritiker wenden ein, dass auch andere Fördersysteme existierten (Frankreichs Privilegien), Patente oft nicht schützten, Industriespionage verbreitet war und das System Innovationen behindern konnte (Watts Patent). Befürworter halten entgegen, dass das britische System marktorientierter und effizienter war und Patente trotz Schwächen wichtig für die Entlohnung risikoreicher Unternehmungen waren.

Politische Rahmenbedingungen

Großbritanniens politische Institutionen unterschieden sich. Es gab relative Stabilität ohne Kriege auf eigenem Territorium während der entscheidenden Phase. Douglass North betont die bessere Spezifikation von Eigentumsrechten (Patent-, Markenrecht, Rechtsprechung), die Innovation und Kapitalakkumulation begünstigten. Die Politik sei kein reiner Laissez-faire gewesen, sondern habe Eigentumsrechte konsequent gegen Traditionen durchgesetzt. Doch auch die Niederlande hatten ähnliche Eigentumsrechte. Kritiker sehen solche Institutionen schon Jahrhunderte früher in Großbritannien. Patrick O’Brien sieht die Regierung als Ermöglicher der effizientesten Marktwirtschaft Europas, auch ohne koordinierte Wirtschaftspolitik. Öffentliche Güter (Straßen, Kanäle, Schulen) wurden oft privat finanziert. Angewandte Wissenschaft wurde nicht staatlich gefördert, sondern beschränkte sich auf private Vereine. Mancur Olson erklärt den Erfolg mit der Schwäche von Interessenverbänden, die Fortschritt behindern könnten. Nach dem Bürgerkrieg war die Gesellschaft mobil, Organisation schwer. Die Regierung unterstützte Innovationen, verbot Gewerkschaften und schlug gewaltsame Proteste (Ludditen) nieder. Law and Order wurden effektiv durchgesetzt. Merkantilismus wurde schwächer umgesetzt, Zünfte verloren Einfluss. Ältere Reglements wurden kaum durchgesetzt. Die Poor Laws (Armenfürsorge) stellten ein erhebliches soziales Netz dar. Obwohl zeitgenössisch kritisiert, sehen Historiker sie heute nicht als signifikante Behinderung, teils sogar als Förderer, da sie Risikobereitschaft erhöhten und die Loslösung vom Land erleichterten. Eine weitere Besonderheit war die relative Unbedeutsamkeit Londons als nationales politisches Zentrum im Vergleich zu anderen Hauptstädten; viele Entscheidungen fielen lokal, was Provinzzentren wie Manchester, Glasgow, Edinburgh förderte. Militärische Nachfrage stimulierte bestimmte Entwicklungen (Puddelverfahren, Walzwerk, Bohrmaschinen), aber dies war nicht einzigartig für Großbritannien und nicht immer auf den zivilen Sektor übertragbar. Insgesamt trug die Politik wahrscheinlich zur Vorreiterrolle bei, durch persönliche Freiheit, stabile Eigentumsrechte und Toleranz, die Kreativität anzog (z.B. Hugenotten-Brain-Drain).

Wann begann das Zeitalter der Industrie?
Die weltweite Industrialisierung nahm in Großbritannien mit der Baumwollverarbeitung und der Tuchproduktion ihren Anfang; unter Bezug darauf wird als Beginn des Industriezeitalters allgemein die Zeit um 1760 im 18. Jahrhundert angesehen.

Nachfrage, Angebot und Konsum

Einige Theorien führen die Industrielle Revolution auf eine Steigerung der Binnennachfrage zurück (North: Marktgröße bestimmt Innovation). Andere sehen den Konsumismus als Folge des Angebots (McKendrick). Der Baumwollverbrauch pro Kopf war zunächst gering. Erst der Import billiger indischer Baumwolltücher (Indiennes) steigerte den Absatz und zwang britische Hersteller zu Effizienzsteigerungen, was als „Initialzündung“ gilt und zu einem „sagenhaften Anstieg der Baumwollproduktion“ führte. Mokyr kritisiert die reine Nachfrage-Erklärung, da Konsumänderungen selbst Gründe im Wirtschaftssystem haben. Bevölkerungswachstum hätte eher Agrarnachfrage erhöht. Es gebe wenige Hinweise auf Nachfrage-induzierte Investitionen, und der Höhepunkt der Konsumänderungen lag um 1700. Dennoch spielte Nachfrage eine Rolle; sie musste zumindest die Fixkosten von Erfindungen decken. Die Nachfrage nach Baumwolltextilien, auch durch Mode getrieben, war förderlich, da Baumwolle besser mechanisierbar war als Wolle oder Flachs. Jan de Vries schlägt vor, dass neben Angebotsänderungen auch eine „Fleißrevolution“ auf der Nachfrageseite stattfand: Menschen verlagerten Anstrengungen von Haushalts- in Marktproduktion, was zu Spezialisierung führte. Oder die treibende Kraft war die bessere und verlässlichere Qualität standardisierter Waren.

Internationaler Handel und Kolonialismus

Großbritannien hatte eine relativ offene Außenwirtschaft, trotz ständiger Kriege und Embargos. Handel regt die Wirtschaft an, da er Export und Import ermöglicht. Einige Historiker zweifeln die fundamentale Bedeutung des Handels an (Harley: nur 6% Nationaleinkommen Verlust ohne Handel 1860). Sie sehen Handel eher als Folge der Industrialisierung. Andere (O’Brien, Cuenca) argumentieren für einen stimulierenden Effekt, besonders in Schlüsselindustrien wie der Textilindustrie, die ohne Baumwollimporte nicht entstanden wäre. Händler investierten Gewinne in die Industrie. Die Offenheit förderte auch den Austausch wissenschaftlicher und technischer Ideen (z.B. indische und türkische Techniken). Die Rolle von Imperialismus und Sklaverei ist ebenfalls umstritten. Großbritannien verlor die USA, Indien war als Markt zwar wichtig, aber Europa relevanter. Länder ohne Kolonien (Belgien, Schweiz) industrialisierten sich schneller als solche mit (Niederlande, Portugal). Eric Williams (1944) argumentierte, Gewinne aus dem Sklavenhandel finanzierten die Industrialisierung. Diese Theorie wird wieder diskutiert. Zucker- und Sklavenhandel waren profitabel, ließen Bristol und Liverpool wachsen. Die Verbindung zu Manchester ist unklar. Die Profitabilität basierte primär auf der Zuckernachfrage, weniger auf der Ausbeutung allein. Richardson schätzt nur marginal langsamere Industrialisierung ohne Sklaverei in der Karibik. Die Bedeutung der Sklaverei auf den US-Baumwollplantagen für die billige Baumwolllieferung wird als größer eingeschätzt. Sven Beckert (2014) nennt den Baumwollanbau auf Gewaltstrukturen basierend „Kriegskapitalismus“. Land und Arbeitskräfte (Sklavenimport stieg nach der Spinning Jenny) waren billig verfügbar. Die enormen Profite trugen zum „take-off“ bei.

Wissenschaftskultur und Pragmatismus

Großbritannien war wissenschaftlich nicht unbedingt führend. Wichtiger als reines Wissen war eine pragmatisch orientierte Experimentier- und Bastelfreudigkeit. Eine „Wissenschaftskultur“ im weiteren Sinne spielte eine Rolle: Vertrauen in Vernunft und Naturgesetze, Zerlegung von Problemen, Bereitschaft zur Aufgabe alter Doktrinen. Öffentliche Vorlesungen und Demonstrationen zeigten Interesse an praktischer, kommerzieller Anwendung. Diese Treffen waren nicht elitär. Das Interesse an Wissenschaft diente der aufstrebenden Händler- und Industriellenschicht als Legitimationsmittel. Die Wissenschaftsphilosophie war anders: Francis Bacon (pragmatisch, experimentell) beeinflusste Großbritannien, René Descartes (abstrakt, theoretisch) Frankreich. So forschten in England angewandte Ingenieure zu Wasserkraft, in Frankreich Mathematiker. Diese Divergenz ging tiefer: die kartesische Tradition stützte den autoritären Staat, britische Forscher kooperierten mit Geschäftsleuten. Der britische Staat hielt sich zurück, Entwicklungen waren privat getrieben. Frankreich subventionierte Wissenschaft und Grandes écoles. In anderen Ländern diente Wissenschaft oft Militär/Verwaltung; in Großbritannien hatten private Interessen Vorrang.

Die Industrielle Revolution in Deutschland

Der Begriff „industrielle Revolution“ entstand in Frankreich als Analogie zur politischen Revolution. Er wurde später auf den englischen Wandel angewandt (Engels, 1845: Epochenzäsur). In Deutschland wurde der Begriff ab 1843 verwendet. Die Forschung ist sich einig, dass die Industrialisierung auf langen Vorbedingungen beruhte. Einige relativieren daher den Revolutionsbegriff zugunsten eines Entwicklungsprozesses (Kuznets: „modernes Wirtschaftswachstum“ seit Mitte 18. Jh.). Die meisten Forscher halten an der Idee eines Durchbruchs fest, streiten aber über den genauen Beginn des „take offs“. Die „Vorbereitungsphase“ begann um 1790. Der Beginn des eigentlichen „take offs“ wird zwischen den 1830er- (Henning, Kaufhold, Kocka), 1840er- (Spree, Tilly, Wehler) und sogar 1850er-Jahren (Borchardt) angesetzt. Trotz der Debatten herrscht Einigkeit: Nach einer langen Vorlaufphase trat Deutschland spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts quantitativ und qualitativ ins Industriezeitalter ein.

Wirtschaftliche Entwicklungen und Krisen

Die gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten waren während des Zeitraums (bis ca. 1870) nicht außergewöhnlich hoch (ca. 2,4-3,3% p.a. 1850-1871). Das enorme Wachstum fand im industriellen Sektor statt. Anfangs dominierte die Konsumgüterproduktion (Textil), abhängig von Reallöhnen. Nach 1840 stiegen Eisenbahn und Schwerindustrie zu führenden Sektoren auf, die Konjunktur folgte nun eigenen Gewinnerwartungen. Erst um 1870 dominierte der Sekundärsektor die Gesamtwirtschaft. Bis dahin hatte die Landwirtschaft noch eigene Dynamik. Gesamtwirtschaftliche Konjunkturzyklen im heutigen Sinn gab es erst ab dem Kaiserreich; davor mischten sich agrarisch geprägte (Ernteausfälle: 1805/06, 1816/17, 1829/30, 1846/47) und industrielle Einflüsse. Der industrielle Konjunkturtyp zeigte sich erstmals Mitte der 1840er mit einem Eisenbahn-Investitionsboom, der aber rasch abbrach und die Agrarkrise von 1847 verschärfte (Lebensmittelpreise, Hunger, Arbeitslosigkeit). Das Tief endete 1849/50. Ab den 1850ern wirkten sich Ernteausfälle regionaler aus (Eisenbahntransport). Investitionen stiegen in allen Bereichen. Ein massiver Abschwung 1857-1859 („erste Weltwirtschaftskrise“) unterbrach den Aufstieg. Dies war eine Handels-, Spekulations- und Bankenkrise, ausgelöst in den USA, aber auch Produktionskapazitäten hielten nicht Schritt. Die Krise war kürzer als die Gründerkrise nach 1873. Die frühen 1860er waren schwach (Amerikanischer Bürgerkrieg: Baumwollmangel). Nach Mitte der 1860er gab es einen Aufschwung, der in den Gründerboom mündete, getragen von Schwerindustrie, Textil und Landwirtschaft, nur kurz gebremst 1870/71. Bis 1873 dominierte die Industrie die „wirtschaftlichen Wechsellagen“.

Was war der Grund für die Industrialisierung?
So wurden einerseits Ressourcenreichtum (Kohlevorkommen) und Ressourcenarmut (Abholzung knapper Waldflächen und Holznot führte zur Nutzung neuer Energiequellen wie Kohle) Großbritanniens als Ursachen bezeichnet.

Wandel der Gesellschaft und die Soziale Frage

Parallel zur Wirtschaft änderte sich die Gesellschaft stark. Ältere und neuere Lebensweisen und soziale Gruppen mischten sich. Das 19. Jahrhundert gilt als Zeit des bürgerlichen Durchbruchs, obwohl Bürger nie die Mehrheit stellten (anfangs Landgesellschaft, später Arbeiterschaft). Bürgertum prägte Werte und Normen. Es war keine homogene Gruppe: altes Stadtbürgertum (Handwerker, Händler) verharrte in Traditionen; neues Bildungsbürgertum (Beamte, Akademiker) basierte auf Leistung, nicht Privilegien, und war aufnahmebereit für Aufsteiger; Wirtschaftsbürgertum (Unternehmer, Bankiers) war zahlenmäßig klein, stammte unterschiedlich (Aufsteiger, Kaufleute, Bildungsbürger) und sonderte sich später durch Lebensstil ab. Die wachsende Bevölkerung konnte lange nicht ernährt und beschäftigt werden. Der Zusammenbruch alter Gewerbe (Handwerk, Heimgewerbe) verschärfte die Not (Pauperismus). Ländliche Unterschichten mit wenig Land gerieten in Existenznöte. Mittelfristig wurden sie Fabrikarbeiter, aber die Übergangszeit bedeutete Verarmung (schlesische Weber). Auswanderung (besonders ab 1830er, Höhepunkt 1847, 1854) war eine Reaktion auf soziale Not und Agrarkrise. Seit Mitte der 1840er wandelte sich die untere Schicht: der Begriff Proletariat verdrängte Pauperismus. Die „arbeitenden Klassen“ (Handarbeiter, Tagelöhner, Gesellen, Fabrikarbeiter) machten 1849 in Preußen 82% der Erwerbstätigen aus. Moderne Fabrikarbeiter waren anfangs eine kleine Minderheit (1849: 270.000 Fabrikarbeiter, 54.000 Bergleute in Preußen), stiegen aber bis 1870/71 deutlich an. Es gab starke Differenzierung (gelernt, angelernt, ungelernt; Facharbeiter oft aus Handwerk, Drucker als Avantgarde). Ungelernte kamen aus städtischen Unterschichten oder ländlichen Gebieten. Binnenwanderung nahm zu. Frauen- und Kinderarbeit war in Textil, Landwirtschaft und Heimgewerbe verbreitet, in Fabriken abnehmend. Die heterogenen Gruppen wuchsen durch Zusammenleben in Arbeiterquartieren zu einer Arbeiterschaft mit gemeinsamem Selbstverständnis zusammen. Ein Mentalitätswandel setzte ein: Not wurde nicht mehr als unabänderlich gesehen, sondern als ungerecht, was zur entstehenden Arbeiterbewegung führte. Die sich ausbreitenden sozialen Missstände wurden als Soziale Frage diskutiert, was zur Entstehung von Gewerkschaften, Parteien und Ideen wie dem Kommunismus führte.

Vorbedingungen und Agrarmodernisierung

Deutschland war über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus agrarisch geprägt (1800: 2/3, 1870: 1/2 Beschäftigte in Landwirtschaft). Urbanisierung war langsam, Großstädte wuchsen erst im letzten Viertel des 19. Jh. Deutschland war zunächst arm, Wirtschaftswachstum pro Kopf setzte erst um 1880 ein. Haushalte gaben um 1850 2/3 für Nahrung aus. Dies machte die Bevölkerung anfällig für Ernährungskrisen. Ernteausfälle führten zu Preissteigerungen. Die Folgen schwächten sich ab den 1810ern ab (weniger Sterbefälle), aber in armen Gebieten gab es bis in die 1850er Jahre noch Krisenjahre. Vier Vorgänge milderten die Krisen: Agrarmodernisierung (Optimierung Stoffkreisläufe, intensive Bodennutzung durch Stallhaltung, Futterpflanzen, Dünger, Aufgabe Brache, Kartoffelanbau) ernährte wachsende Bevölkerung, die vermehrt außerhalb Landwirtschaft tätig war, und machte Versorgung weniger wetterabhängig. Agrarreformen (ab 1810er, besonders in Preußen) änderten Besitz- und Personenrechte (Abschaffung Leibeigenschaft, Bauern Landbesitzer), bauten genossenschaftliche Nutzungsformen ab (Verkoppelungen, Beseitigung Wegerechte), was Agrarmodernisierung erleichterte. Marktintegration (Angleichung Preise, Ausgleich Defizite) durch verbesserte Transportinfrastruktur (Straßen ab 1810er, Eisenbahn ab 1840er senkte Frachtraten) und institutionelle Änderungen erleichterte Handel. Deutschland wurde ab 1860er Getreideimporteur. Krisenmanagement durch staatliche Behörden und regionale Eliten (organisierte Importe, verbilligte Abgaben, Beschäftigungsprogramme) wurde besser, teils als Reaktion auf Hungerrevolten. Die regional unterschiedliche Entwicklung des verarbeitenden Gewerbes beeinflusste die Hilfsmaßnahmen (Rheinland vs. Nordosten Preußens).

Beginn und führende Sektoren

Gewerbliche Produktion für überregionale Märkte gab es lange. Industrialisierung bedeutete zunehmend Einsatz von Festkapital (Maschinen angetrieben von Wasser/Dampf) in zentralen Fabriken im Besitz von Unternehmern. Arbeitsplatz verlagerte sich vom Heim in die Fabrik mit geregeltem Rhythmus. Technologischer Fortschritt gewann Bedeutung. Der Staat baute das Bildungswesen aus (Gewerbeinstitut Berlin 1821, Polytechnikum Karlsruhe 1825). Deutschland war ein industrieller Nachzügler (im Vergleich zu GB, Belgien, Frankreich, Schweiz). Geringe Marktintegration und Verfügbarkeit von Arbeitskräften/Holz bremsten zunächst. Die Frühindustrialisierung (1810er-1830er) zeigte schrittweise Verbesserung im Kohlebergbau und erste Textilfabriken. Die erste Phase rascher Industrialisierung (1840er-1870er) unterschied sich von GB. Dort führte die mechanische Baumwollverarbeitung; in Deutschland standen Eisenbahnbau und Montansektor im Zentrum. Die Hälfte der Industrieinvestitionen floss in die Eisenbahn, die Montanindustrie antrieb (Ersatz Holzkohle durch Steinkohle, Puddelofen, Walzwerk für Schienen). Die Nachfrage nach Steinkohle ließ Bergbaureviere (Ruhrgebiet, Saarland, Oberschlesien) wachsen. Eisenbahnbau verbesserte Marktintegration (Frachtraten sanken um 3/4), förderte Arbeitsteilung und Urbanisierung (Nahrungsmitteltransport, Energiekonzentration in Städten). Er trieb auch den Maschinenbau voran, der ab den späten 1840ern den Import von Lokomotiven ersetzte. In der Textilverarbeitung setzte ab 1840ern die Mechanisierung des Webens ein; Deutschland adaptierte neueste Technologie und versorgte sich Ende der 1860er selbst mit Baumwollgarn. Regionale Schwerpunkte waren Sachsen, Schlesien, Rheinland, Ostschwaben. In den Industriedistrikten entstanden neue soziale Gruppen: Industrieunternehmer stärkten das Wirtschaftsbürgertum (Basis der liberalen Bewegung); Fabrikarbeiter entstanden, ihre Konzentration erleichterte Kommunikation und neue Protestformen (Maschinensturm, Weberaufstand 1844, Zerstörung von Gießereien 1848). Die Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung (1848) war ein erster Ansatz organisierter Arbeiterbewegung.

Häufig gestellte Fragen (FAQ)

Warum begann die Industrielle Revolution in Großbritannien?

Historiker diskutieren dies intensiv. Es war wahrscheinlich eine Kombination vieler Faktoren: Geographische Vorteile (Kohle, Wasserwege), technologische Kreativität (besonders bei Verbesserungen), förderliche soziale Strukturen (Status durch Reichtum), politische Stabilität und Eigentumsrechte, wachsende Nachfrage (besonders nach Baumwolle) und eine pragmatische Wissenschaftskultur. Kein Einzelfaktor war allein entscheidend.

Was war die "Soziale Frage" in Deutschland?

Die "Soziale Frage" beschreibt die vielfältigen Probleme, die durch das schnelle Bevölkerungswachstum, die Abwanderung vom Land in die Städte und die Abhängigkeit von Lohnarbeit in der frühen Industrialisierungsphase entstanden. Dazu gehörten Pauperismus (Massenarmut), schlechte Wohnverhältnisse, Krankheiten, Ausbeutung und Alkoholismus. Sie führte zur Entstehung von Arbeiterbewegungen und neuen politischen Ideen.

Was war der Grund für die Industrialisierung?
So wurden einerseits Ressourcenreichtum (Kohlevorkommen) und Ressourcenarmut (Abholzung knapper Waldflächen und Holznot führte zur Nutzung neuer Energiequellen wie Kohle) Großbritanniens als Ursachen bezeichnet.

Welche Rolle spielten die Eisenbahnen in Deutschland?

Eisenbahnen waren in Deutschland ein zentraler "führender Sektor" der ersten Industrialisierungsphase (1840er-1870er). Sie zogen hohe Investitionen an, trieben die Montanindustrie (Kohle, Eisen) voran, verbesserten die Marktintegration erheblich (senkten Frachtkosten) und förderten die Arbeitsteilung sowie die Urbanisierung.

War Deutschland ein Vorreiter der Industrialisierung?

Nein, im Vergleich zu Großbritannien, Belgien, Nordfrankreich und der Schweiz war Deutschland ein industrieller Nachzügler. Die Industrialisierung begann hier später und verlief zunächst langsamer, bevor sie ab den 1840er Jahren an Fahrt aufnahm und sich in ihren führenden Sektoren (Eisenbahn, Montanindustrie) von Großbritannien unterschied.

Was kam vor der Industrialisierung in Deutschland?

Vor der Industrialisierung war Deutschland überwiegend ein agrarisch geprägtes Land mit langsamer Urbanisierung und Armut, die zu Ernährungskrisen führte. Es gab jedoch bereits eine Früh- oder Protoindustrialisierung mit gewerblichen Aktivitäten. Wichtige Vorbedingungen für die spätere Industrialisierung waren die Agrarmodernisierung (intensive Landnutzung, Kartoffelanbau), Agrarreformen (Abschaffung Leibeigenschaft, neue Eigentumsrechte), eine beginnende Marktintegration (Straßen) und verbessertes Krisenmanagement bei Ernteausfällen.

Vergleich: Großbritannien vs. Deutschland

MerkmalGroßbritannienDeutschland
Zeitlicher BeginnUm 1760Frühphase ab 1810er, "Take-off" ab 1840er
Führende SektorenTextilindustrie (Baumwolle)Eisenbahn, Montanindustrie
Technologische Stärke"Mikroerfindungen", Anwendung, PragmatismusAdaption neuester Technologie, Maschinenbau
Staatliche RolleZurückhaltend, Eigentumsrechte gestärkt, ToleranzInterventionistischer, später Beginn staatlicher Bildungseinrichtungen
Gesellschaftlicher WandelFrühe Marktwirtschaft, Fokus auf Reichtum als Status, soziale MobilitätStrukturwandel, Pauperismus, Entstehung Arbeiterschaft, Soziale Frage
RessourcenKohle, Wasserwege, aber auch Importe (Baumwolle) nötigKohle, Eisen, aber auch spätere Entwicklung im Vergleich

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Industrielle Revolution kein singuläres Ereignis mit einer einzigen Ursache war, sondern das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels von geografischen, technologischen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Faktoren. Großbritannien hatte eine einzigartige Konstellation dieser Faktoren, die den ersten Durchbruch ermöglichten. Deutschland folgte als Nachzügler mit einem eigenen Pfad, geprägt von anderen führenden Sektoren und spezifischen sozialen Herausforderungen, die zur Entstehung der Sozialen Frage und der Arbeiterbewegung führten. Beide Prozesse veränderten die jeweilige Gesellschaft und Wirtschaft grundlegend und legten den Grundstein für die moderne Welt.

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Andenmatten Soltermann

Hallo! Ich bin Andenmatten Soltermann, ein Schweizer Fotograf, der leidenschaftlich die Essenz der Welt durch seine Linse einfängt. Geboren und aufgewachsen in den majestätischen Schweizer Alpen, haben die deutsche Sprache und atemberaubende Landschaften meine kreative Vision geprägt. Meine Liebe zur Fotografie begann mit einer alten analogen Kamera, und seitdem widme ich mein Leben der Kunst, visuelle Geschichten zu erzählen, die berühren und verbinden.In meinem Blog teile ich praktische Tipps, Techniken und Erfahrungen, um dir zu helfen, deine fotografischen Fähigkeiten zu verbessern – egal, ob du ein neugieriger Anfänger oder ein erfahrener Profi bist. Von der Beherrschung des natürlichen Lichts bis hin zu Ratschlägen für wirkungsvolle Bildkompositionen ist es mein Ziel, dich zu inspirieren, die Welt mit neuen Augen zu sehen. Mein Ansatz verbindet Technik mit Leidenschaft, immer auf der Suche nach dem Funken, der ein Foto unvergesslich macht.Wenn ich nicht hinter der Kamera stehe, findest du mich auf Bergpfaden, auf Reisen nach neuen Perspektiven oder beim Genießen der Schweizer Traditionen, die mir so am Herzen liegen. Begleite mich auf dieser visuellen Reise und entdecke, wie Fotografie die Art und Weise, wie du die Welt siehst, verändern kann.

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