Die Frage, ob Fotografie als Kunstform anerkannt werden sollte, hat das Medium seit seiner Erfindung im Jahr 1839 begleitet. Während die frühen Pioniere die Fotografie oft als wissenschaftliche Entdeckung oder Werkzeug zur objektiven Dokumentation betrachteten, gab es immer wieder Visionäre, die das kreative Potenzial des Apparats erkannten. Eine zentrale Figur in diesem Kampf um Anerkennung war zweifellos Alfred Stieglitz (1864-1946), dem oft zugeschrieben wird, die Fotografie als vollwertige Kunstform etabliert zu haben.

Seine Bedeutung wird noch heute gewürdigt, wie eine Veranstaltung an den Harvard Art Museums zeigte, bei der Deborah Martin Kao, Richard L. Menschel Kuratorin für Fotografie, über ihn sprach. Kao bezeichnete Stieglitz als „einen Künstler, der größer ist als das Leben“ und unterstrich damit seinen immensen Einfluss. Er war der erste Künstler, dem eine Veranstaltungsreihe gewidmet wurde, die dazu einlädt, ein einzelnes Werk oder einen Künstler „tiefer und anders“ zu betrachten.
Alfred Stieglitz: Ein Visionär am Wendepunkt
Alfred Stieglitz, aufgewachsen in der viktorianischen Ära, wird oft als der „Vater der Kunst-Street-Fotografie“ bezeichnet. Sein Blick auf die Welt war revolutionär. Ein herausragendes Beispiel dafür ist sein Werk „The Steerage“ (1907), das als eines der ikonischsten Bilder der Kunst des 20. Jahrhunderts gilt. Stieglitz selbst beschrieb, wie er in diesem Bild eine „Abbildung von Formen“ sah. Die Komposition mit einem schrägen Schornstein, einem die Szene teilenden Gang und wiederholten Kreisen (Hüte, Hauben, Köpfe) zeigt, dass sein Interesse über die reine dokumentarische Abbildung hinausging. Er sah die Welt in ihren abstrakten Elementen, in Linien, Formen und Licht – ein Ansatz, der ihn von vielen Zeitgenossen unterschied.
Sein früheres Portfolio „Picturesque Bits of New York and Other Studies“ (1897), eine seltene Fotogravüre-Ausgabe und die erste Sammlung seiner Arbeiten, die 1969 von Harvard erworben wurde, offenbart bereits die verschmelzenden und kollidierenden Strömungen der Fotografie jener Zeit. Diese Bilder zeigten Echos des impressionistischen, künstlerischen 19. Jahrhunderts, aber auch den körnigen, realistischen und sozial bewussten Ansatz des aufkommenden 20. Jahrhunderts. Beispiele wie „Reflections, Venice“, „The Glow of Night — New York“ (eine wegweisende Nachtaufnahme), „On the Seine — Near Paris“ und „A Wet Day on the Boulevard — Paris“ demonstrieren seine Vielseitigkeit und sein technisches Können. Letzteres Bild wurde von Kao als so lebensecht beschrieben, dass es wie eine glitzernde Straße sei, auf die man treten könnte.
Stieglitz begann, eine Handkamera zu verwenden, was eine Abkehr von den statischeren Methoden der Zeit darstellte und eine Reaktion auf die seiner Meinung nach mangelnde „Sportsmanship“ der vorgefertigten Kameras der Kodak-Ära war. Er war nicht nur ein Fotograf, sondern auch ein unermüdlicher Förderer der Fotografie als Kunst. Er war entschlossen, eine Gruppe von Kunstfotografen mit einem „amerikanischen Zentrum“ in New York zu schaffen. Ein Artikel aus dem Jahr 1896 zitierte ihn mit den Worten: „Herr Stieglitz ist zuallererst ein Künstler.“
Die historische Debatte: Apparat gegen Künstlerhand
Die Frage, ob Fotografie Kunst sei, war seit der Vorstellung der ersten Daguerreotypie im Jahr 1839 ein zentraler Streitpunkt. Viele Zeitgenossen betrachteten die Fotografie primär als naturwissenschaftliche Entdeckung. Ihr wurde ein hoher Wahrheitsgehalt zugeschrieben, da die Bilder scheinbar „von selbst“ entstanden, eine Nachahmung der Natur. Dieses Konzept der „Selbstevidenz“ bedeutete, dass das Bild nicht mehr von der Hand des Künstlers geschaffen wurde, sondern von einem Apparat. Dies passte gut in eine Zeit technischer Neuerungen, stellte aber die traditionelle Vorstellung von Kunst, die stark auf handwerklichem Geschick und individueller Interpretation basierte, in Frage.
Frühe Motive waren oft unbewegt: Architektur, Stillleben, archäologische Ansichten. Die Herkunft aus den Naturwissenschaften spiegelte sich auch in den ersten Mikroskop- oder Sternaufnahmen wider. Bürger nutzten Fotos, um ihren Besitz festzuhalten, Politiker zur Dokumentation von Kriegen. Schnell wurde die Porträtfotografie populär und führte zur Entstehung eines neuen Berufsstandes und großer Geschäftsfelder. Gegen Ende des Jahrhunderts wurden Kameras für den Mittelstand erschwinglich, und Anleitungen gaben nicht nur technische Hinweise, sondern auch Vorschläge für geeignete Motive.
In dieser Phase versuchten viele Fotografen, die Fotografie anerkannter Kunstformen wie der Malerei anzunähern. Pioniere wie William Henry Fox Talbot (1800-1877) schufen Werke wie „The Open Door“ (1844) mit weichen, malerischen Tönen, die eine Antwort auf die detaillierten, dokumentarischen Qualitäten der Daguerreotypie waren. Oscar Gustave Rejlander (1813-1875) schuf allegorische Bilder, die versuchten, „Fotografie als Historienmalerei“ zu inszenieren. Henry Peach Robinson (1830-1901) nutzte Fotos, um das Leben edler Bauern darzustellen, ebenfalls eine malerische Tradition. Julia Margaret Cameron (1815-1879) schuf intime, weichgezeichnete Porträts und gelegentlich moralisierende Allegorien.
Peter Henry Emerson (1856-1936), der Cameron als „die einzige alte Meisterin, mit der die Fotografie prahlen kann“, bezeichnete, fotografierte friedliche ländliche Szenen, die an Malereien früherer Epochen erinnerten. Doch Emerson war auch ein „Prophet“ eines neuen Realismus. Er war unter den Juroren, die Stieglitz' erste preisgekrönte Aufnahme, „The Last Joke — Bellagio“ (1887), bewerteten. Dieses Bild erinnerte zwar an die Darstellung edler Bauern in der Malerei, nahm aber auch den ethnographischen Realismus vorweg, der Jahrzehnte später die Street-Fotografie dominieren sollte.

Trotz dieser frühen künstlerischen Ansätze blieb die Fotografie lange Zeit in der Kunstwelt umstritten. Die Akzeptanz der Fotografie als Kunstform war, wie die Harvard-Erwerbung von Stieglitz' Gravüren im Jahr 1969 zeigt, zu diesem Zeitpunkt „noch nicht ganz akzeptiert“. Erst danach gewann die Sammlung an Fahrt, mit der Einstellung des ersten Kurators für Fotografie und der raschen Expansion der Bestände.
Die deutsche Perspektive: Wann ist Fotografie Kunst?
Interessanterweise gibt es auch eine rechtliche und steuerliche Perspektive auf die Frage, ob Fotografie Kunst ist, beispielsweise in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) in Deutschland. Nach ständiger BFH-Rechtsprechung ist Fotografie grundsätzlich keine künstlerische Tätigkeit im steuerrechtlichen Sinne. Technische Brillanz, die Beherrschung der Motivauswahl und Motivgestaltung allein genügen nicht, um eine Fotografie als Kunstwerk anzuerkennen.
Eine Fotografie wird nur dann als Kunstwerk gewürdigt, wenn sie über die einfache Wiedergabe der Wirklichkeit hinausgeht. Dies kann geschehen aufgrund einer eigenschöpferischen Motivgestaltung oder aufgrund der Nutzung der fotografischen Technik zum Zwecke einer eigenschöpferischen Bildaussage. Wenn Fotografien weitgehend unter Anwendung technischer Hilfsmittel entstehen, werden an die Prüfung der eigenschöpferischen Tätigkeit besonders strenge Anforderungen gestellt. Dies gilt auch, wenn auf die Fotografien selbst nur „gestalterischer“ Einfluss genommen wird.
Bei Porträtaufnahmen sieht die Rechtsprechung oft einen eng begrenzten Spielraum für eigenschöpferische Motivgestaltung. Ähnliches gilt für Standfotografien von Filmgesellschaften oder Pressefotografien. Modefotos, Fotomontagen für Verlage, Illustrierte oder Zeitungen werden, insbesondere wegen der serienmäßigen Vervielfältigung, oft als gewerbliche Tätigkeit eingestuft. Auch wer für Zeitschriften Objekte auswählt und arrangiert, um sie abzulichten, wird gewerblich tätig betrachtet. Landschaftsaufnahmen für Zeitschriften und Kalender oder Atelieraufnahmen für Glückwunschkarten werden in der Regel nicht als eigenschöpferisch angesehen. Wirklichkeitsgetreue Luftbildaufnahmen für Werbung oder Planung ebenfalls nicht.
Es gibt jedoch Ausnahmen. Ein Fotograf kann als Bildjournalist oder Bildberichterstatter freiberuflich tätig sein, was im Steuerrecht eine andere Kategorie darstellt als die künstlerische Tätigkeit, aber dennoch eine nicht-gewerbliche. Auch ein Film- und Fernsehkameramann kann unter Umständen als Künstler gelten, wobei auch hier das eigenschöpferische Element bzw. die Gestaltungshöhe entscheidend ist.
Diese rechtliche Unterscheidung unterstreicht die Komplexität der Frage. Sie zeigt, dass die reine technische Fähigkeit oder die Auswahl eines Motivs allein nicht ausreicht, um eine Fotografie zur Kunst zu machen. Es bedarf einer zusätzlichen kreativen Leistung, die über die bloße Abbildung hinausgeht.
Fotografie heute: Ubiquität und ihr komplexes Wesen
Heute sind wir tagtäglich mit einer Flut von Bildern konfrontiert. Mit Smartphones schießen wir stündlich Millionen von Fotos weltweit. Bilder begegnen uns in den Medien, im privaten und öffentlichen Raum. Diese Ubiquität macht die Frage nach dem Wesen des fotografischen Bildes und seinem künstlerischen Potenzial noch relevanter.
Kunsthistorikerin Eva Ehninger stellt fest, dass Bildern, besonders im Rahmen künstlerischer Praxis, oft ein emanzipatorischer Wert zugestanden wird. Sie können Tabus brechen, zur Reflexion anregen und dazu beitragen, die Gesellschaft neu wahrzunehmen und sich von Normen oder traditionellen Werten zu befreien. Doch die Geschichte der Fotografie gibt Anlass, diese vermeintliche emanzipatorische Macht kritisch zu diskutieren.

Fotografien wurde traditionell eine besondere Beziehung zur Realität zugeschrieben. Sie galten und gelten oft immer noch als objektive, ungefilterte Abbilder ihrer Umwelt. Diese vermeintliche „Natürlichkeit“ macht sie besonders anfällig für politische oder ideologische Vereinnahmung. Fotografien können emanzipatorisch wirken, aber ebenso als Instrumente der Normierung oder Kontrolle eingesetzt werden.
Die massenhafte Verbreitung von Fotografien, wie beispielsweise die Porträts von Königin Victoria, die in Alben gesammelt und weiterverwendet wurden und eine Reichweite erreichten, die Ölgemälde nie hatten, zeigt die immense Macht des Mediums, Bilder und Vorstellungen in der Bevölkerung zu verankern.
Vergleich: Fotografie – Abbild vs. Kunst
| Aspekt | Fotografie als Abbild/Dokument | Fotografie als Kunst |
|---|---|---|
| Ziel | Objektive Wiedergabe der Realität, Dokumentation, Information | Eigenschöpferische Bildaussage, Interpretation, Emotion, ästhetischer Ausdruck |
| Schwerpunkt | Technische Präzision, Klarheit, Informationsgehalt | Komposition, Lichtführung, Formensprache, subjektive Sichtweise, kreativer Prozess |
| Entstehung (historisch) | Naturwissenschaftliche Entdeckung, Apparat als Schöpfer | Künstlerische Vision, Hand des Fotografen (im übertragenen Sinn) |
| Wahrnehmung | Hoher Wahrheitsgehalt, objektiv, ungefiltert | Interpretation, subjektiv, kann Realität verzerren oder neu darstellen |
| Beispiele (oft) | Pressefotos, Dokumentarfotografie, Produktfotos, Luftbildaufnahmen (ohne künstlerische Absicht) | Werke von Stieglitz, Arbus, Winogrand, Lee Friedlander, konzeptuelle Fotografie, künstlerische Porträts |
Häufig gestellte Fragen
Wer gilt als zentrale Figur bei der Anerkennung der Fotografie als Kunstform?
Alfred Stieglitz (1864-1946) wird weithin als die zentrale Figur angesehen, die maßgeblich zur Akzeptanz der Fotografie als eigenständige Kunstform beigetragen hat. Er kämpfte unermüdlich für diesen Status und zeigte durch seine eigenen Werke und die Förderung anderer Fotografen das künstlerische Potenzial des Mediums.
Ist jede Fotografie automatisch Kunst?
Nein. Sowohl aus kunsthistorischer Sicht als auch nach rechtlichen Definitionen (wie der deutschen BFH-Rechtsprechung) ist nicht jede Fotografie Kunst. Es bedarf einer eigenschöpferischen Leistung, einer kreativen Gestaltung oder einer Nutzung der Technik, die über die bloße Abbildung der Realität hinausgeht, um eine Fotografie als Kunstwerk zu qualifizieren.
Was unterscheidet eine künstlerische Fotografie von einer dokumentarischen oder gewerblichen?
Eine künstlerische Fotografie strebt eine eigenschöpferische Bildaussage an und nutzt Komposition, Licht und Technik für einen subjektiven Ausdruck. Dokumentarische oder gewerbliche Fotografie zielt primär auf die objektive oder zweckgebundene (z. B. werbliche) Wiedergabe der Realität oder von Objekten ab, wobei technische Brillanz zwar wichtig ist, aber nicht unbedingt eine darüber hinausgehende künstlerische Absicht verfolgt wird.
Welche Rolle spielten frühe Fotografen, die versuchten, Malerei zu imitieren?
Fotografen wie Talbot, Rejlander und Robinson spielten eine wichtige Rolle in der frühen Entwicklung, indem sie zeigten, dass die Fotografie mehr sein konnte als nur ein dokumentarisches Werkzeug. Ihr Versuch, die Ästhetik und Themen der Malerei zu übernehmen, war ein früher Schritt auf dem Weg zur künstlerischen Anerkennung, auch wenn spätere Fotografen wie Stieglitz oder Emerson neue Wege des fotografischen Realismus beschritten.
Fazit
Der Weg der Fotografie von einer naturwissenschaftlichen Neuerung zu einer anerkannten Kunstform war lang und von Debatten geprägt. Alfred Stieglitz spielte eine entscheidende Rolle bei dieser Entwicklung, indem er das Medium nicht nur technisch beherrschte, sondern vor allem eine künstlerische Vision einbrachte, die das Potenzial der Fotografie jenseits der reinen Abbildung aufzeigte. Die Frage, was Fotografie zur Kunst macht, bleibt auch heute relevant und wird von verschiedenen Perspektiven beleuchtet – von der kunsthistorischen Analyse über die subjektive Wahrnehmung bis hin zu rechtlichen Definitionen. Es ist die Fähigkeit, über die Objektivität des Apparats hinauszugehen und eine einzigartige, eigenschöpferische Aussage zu treffen, die eine Fotografie in den Rang eines Kunstwerks erhebt. Die Realismus-Bewegung und die Entwicklung der Street-Fotografie, deren Vater Stieglitz genannt wird, zeigten neue Wege auf, wie die Fotografie die moderne Welt künstlerisch erfassen konnte.
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