Die Frage, ob Fotografie Kunst ist, beschäftigt Betrachter und Künstler seit ihren Anfängen. Während Familienfotos, Urlaubsbilder oder einfache Wochenendschnappschüsse primär Erinnerungen festhalten, gibt es eine Form der Fotografie, die weit darüber hinausgeht und zu Recht als Kunst betrachtet wird. Diese künstlerische Fotografie nutzt das Medium gezielt, um auszudrücken, zu gestalten und zu interpretieren.

Der Begriff Fotografie selbst stammt aus dem Griechischen: photo bedeutet „Licht“ und graph bedeutet „zeichnen“. Wörtlich übersetzt heißt Fotografie also „mit Licht zeichnen“. Schon diese ursprüngliche Bedeutung deutet auf einen kreativen Prozess hin, ähnlich dem Malen oder Zeichnen. Tatsächlich gilt die Fotografie heute als eine Gattung der bildenden Künste, neben Malerei, Skulptur oder Grafik.
Die Entwicklung der Fotografie zur Kunstform
In ihren Anfängen war die Fotografie aufgrund der benötigten teuren und teils schädlichen Chemikalien eine Domäne Wohlhabender und professioneller Fotografen. Dies änderte sich maßgeblich mit der Einführung der Kodak-Kamera durch George Eastman im Jahr 1888. Plötzlich wurde die Fotografie für das Bürgertum erschwinglich. Der Slogan von Kodak lautete damals „You Press the Button, We Do the Rest“. Dieses einfache Verfahren, bei dem die Kamera zur Entwicklung der Filme an die Fabrik zurückgeschickt wurde, führte zu einer Flut von Schnappschüssen und Urlaubsbildern.
Eine kleine Gruppe von Fotografen, die sich „Photo-Secession“ nannte, lehnte dieses kommerzielle und vereinfachte Vorgehen ab. Sie kämpften vehement für die Anerkennung der Fotografie als eigenständigen Zweig der bildenden Künste. Dazu wandten sie sich arbeitsintensiven Verfahren zu, wie der eigenen Herstellung von Fotopapier. Ihre Vision war es, sich vom alten Ideal der reinen Abbildung der Realität zu lösen und eine „malerische“ Herangehensweise zu befürworten. Im Zentrum stand dabei die Betonung der Schönheit des Motivs, der Farbgestaltung und der Komposition, ähnlich wie in der Malerei.
Aus dieser Bewegung heraus entwickelte sich der Piktorialismus. Diese kunstfotografische Stilrichtung dominierte die Fotografie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Piktorialisten waren der Auffassung, dass die Fotografie an Wert gewinnt, wenn sie dem Stil der Malerei oder Zeichenkunst nacheifert, oft durch weiche Fokusse, spezielle Druckverfahren und Manipulationen, die das Foto wie eine Zeichnung oder ein Gemälde aussehen ließen.
Alfred Stieglitz und der Aufstieg der modernen Fotografie
Eine zentrale Figur in der Geschichte der Fotografie als Kunstform war Alfred Stieglitz (1864–1946). Er war nicht nur ein bedeutender Fotograf, sondern auch Kunsthändler, Redakteur und ein starker Verfechter der modernistischen Bewegung in der Kunst. Mit der Gründung der „Photo-Secession“ gilt er als treibende Kraft hinter dem Aufstieg der modernen Fotografie im frühen 20. Jahrhundert.
Die Grundgedanken der „Photo-Secession“ unter Stieglitz waren klar formuliert:
- Die Fotografie ist ein ebenso künstlerisches Ausdrucksmittel wie Malerei oder Skulptur.
- Fotografien können nur von Künstlerinnen und Künstlern geschaffen werden und besitzen ein hohes ästhetisches Potenzial.
- Die Fotografie erfordert handwerkliches Können, insbesondere im Umgang mit den chemischen Prozessen.
Stieglitz selbst demonstrierte das künstlerische Potenzial der Fotografie eindrucksvoll. Seine Porträts von Georgia O'Keeffe, einer der bedeutendsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts, sind berühmte Beispiele. Er schoss über dreihundert Bilder von ihr und betrachtete diese als Teil eines zusammengesetzten Porträts, das mehr als nur das Gesicht zeigen sollte – es sollte Ausdruck und Emotionen widerspiegeln. Dies zeigt, dass die künstlerische Fotografie nicht nur abbildet, sondern interpretiert und eine tiefere Ebene der Darstellung anstrebt.
Künstlerische Gestaltungsmittel in der Fotografie
Ein entscheidender Aspekt, der die künstlerische Fotografie von der reinen Dokumentation unterscheidet, ist der bewusste Einsatz von Gestaltungsmitteln. Fotografen nutzen diese Mittel, um die Wirkung und die Interpretation ihrer Werke zu steuern und die Botschaft hinter dem Bild zu verdeutlichen.
Das Bildformat
Das Format einer Fotografie, das Verhältnis von Höhe zu Breite, beeinflusst maßgeblich die Wirkung. Man unterscheidet zwischen Hoch-, Quer- und quadratischem Format.
Format | Merkmale | Wirkung |
---|---|---|
Querformat (Breite > Höhe) | Betont horizontale Linien Entspricht menschlicher Sehgewohnheit | Stabile und ruhige Wirkung Wird oft als natürlich empfunden |
Hochformat (Breite < Höhe) | Betont vertikale Linien Hauptmotiv wirkt dominierend | Spannende und dynamische Wirkung |
Quadratisches Format (Breite = Höhe) | Betont das Motiv in der Mitte Wiederbelebt durch Retroboom | Harmonisch und beruhigend Kann aber auch neutral und spannungslos wirken |
Die Wahl des Formats ist eine bewusste Entscheidung des Künstlers, um eine bestimmte Stimmung oder Aussage zu erzielen.
Die Perspektive
Die Perspektive, also die Darstellung räumlicher Verhältnisse auf einer zweidimensionalen Fläche, ist ein weiteres mächtiges Werkzeug. Schon in der Malerei der Renaissance wurde die Theorie der Perspektive genutzt. In der Fotografie wird die Perspektive durch den Betrachterstandpunkt und den Winkel der Kamera zum Motiv bestimmt. Unterschiedliche Kameraperspektiven, wie die Frosch-, Normal- oder Vogelperspektive, können optische Verzerrungen erzeugen, die beim Betrachter spezifische Assoziationen hervorrufen, wie zum Beispiel ein Gefühl von Macht (Froschperspektive von unten) oder Unterlegenheit (Vogelperspektive von oben). Auch der Abstand der Kamera zum Motiv spielt eine Rolle, da er die Stärke dieser Assoziationen beeinflusst und ein Gefühl von Enge oder Weite erzeugen kann.
Die Einstellungsgröße
Die Einstellungsgröße klassifiziert Aufnahmen nach dem Ausschnitt des sichtbaren Motivs im Verhältnis zu seiner Umgebung. Sie gibt Auskunft darüber, wie viel Detailebene im Fokus steht. Obwohl die Einstellungsgröße den „scheinbaren“ Abstand zwischen Objektiv und Motiv beschreibt (der durch die Wahl des Objektivs und Kameraeinstellungen beeinflusst wird), ist sie entscheidend dafür, welche Informationen und Emotionen an den Betrachter vermittelt werden. Ähnlich wie in der Filmografie steuert die Wahl der Einstellungsgröße, was der Betrachter sieht und wie er das Gesehene interpretiert und emotional verarbeitet. Ein Weitwinkelobjektiv eignet sich beispielsweise für weitläufige Landschaftsaufnahmen, während ein Makro-Objektiv kleinste Details festhalten kann.
Stilrichtungen der Fotografie als Kunst
Die künstlerische Fotografie gliedert sich in verschiedene Stilrichtungen, die sich in Motivwahl, Ästhetik und Herangehensweise unterscheiden:
Abstrakte Fotografie
Die abstrakte Fotografie, auch experimentelle Fotografie genannt, zielt darauf ab, Objekte so darzustellen, dass sie keine unmittelbare Verbindung zur realen Welt mehr erkennen lassen. Oft kann der Betrachter nicht mehr eindeutig identifizieren, was ursprünglich fotografiert wurde. Alfred Stieglitz gilt als Begründer der absichtlichen abstrakten Fotografie, beispielsweise mit seiner Serie „A Sequence of Ten Cloud Photographs“. Die wesentlichen Aspekte der abstrakten Fotografie sind Form, Farbe und Textur. Die Form kann das gesamte Bild einnehmen, die Farbe zieht die Aufmerksamkeit auf sich, und die Textur soll die haptischen Sinne ansprechen.
Architekturfotografie
In der künstlerischen Architekturfotografie geht es um die Darstellung von Baukunst – Gebäuden, Treppen, Brücken, Statuen. Hier sind Perspektive, Lichteinfall und Kameraeinstellung von enormer Bedeutung. Auch äußere Faktoren wie Jahreszeit, Tageszeit und Wetter spielen eine wichtige Rolle. Fotografen müssen sorgfältig planen, um die gewünschte Wirkung zu erzielen und störende Elemente zu vermeiden. Details von Bauwerken, wie Treppenaufgänge, sind beliebte Motive, die je nach Blickwinkel und Licht interessante Formen und Darstellungen ermöglichen. Oft verschmilzt die Architekturfotografie mit der abstrakten Fotografie, da die Formen, Farben und Texturen von Bauwerken unkonventionelle und interessante Aufnahmen ermöglichen.
Die Architekturfotografie umfasst:
- Fotografie von Stadtlandschaften
- Fotografie im Außenbereich (Exterieur)
- Fotografie im Innenbereich (Interieur)
Exterieur-Aufnahmen konzentrieren sich auf das Gebäude und seine Umgebung, während Interieur-Aufnahmen die Räumlichkeiten und deren Inneneinrichtung darstellen.
Landschaftsfotografie
Landschaftsfotografien zeigen die Verbindung des Künstlers zur Natur und fangen die Essenz der Welt ein, von weiten Panoramen bis hin zu kleinen Details. Ansel Adams ist ein prominentes Beispiel für einen Landschaftsfotografen, dessen ästhetische Darstellungen amerikanischer Nationalparks nicht nur Kunstwerke schufen, sondern auch das Bewusstsein für Naturschutz stärkten.
Porträtfotografie
Die Porträtfotografie gilt als anspruchsvolle Disziplin, die technisches Können und Einfühlungsvermögen erfordert. Die Mimik, Gestik und Haltung des Modells beeinflussen maßgeblich die Bildaussage. Es gibt verschiedene Stilrichtungen, wie das Selbstporträt (z.B. Cindy Sherman, die Identitätsfragen und Geschlechterrollen thematisiert), das natürliche Porträt, das formale Porträt (Passbild, Bewerbungsbild) und das Werbeporträt. Diese Stilrichtungen können auch kombiniert werden.
Stillleben Fotografie
Ähnlich der Stilllebenmalerei, die eine lange Geschichte hat, geht es in der Stilllebenfotografie um die bewusste Anordnung alltäglicher, menschengemachter oder natürlicher Gegenstände. Diese Arrangements können symbolisch sein, Blumen oder Lebensmittel darstellen oder sich mit Themen wie Memento Mori („Gedenke des Todes“) oder Vanitas („Vergänglichkeit“) auseinandersetzen, indem sie Symbole wie Totenköpfe, Sanduhren oder verwelkte Blumen verwenden. Die Stilllebenfotografie erlaubt es dem Künstler, eine Szene vollständig zu inszenieren und durch die Anordnung, das Licht und die Komposition eine spezifische Aussage zu treffen.
Zeitgenössische Fotografie
Die zeitgenössische Fotografie beschreibt die Kunst der Gegenwart. Viele ihrer Vertreter sind noch künstlerisch aktiv. Im Vordergrund stehen oft Konzepte, Gedanken und Fragestellungen, die sich auf Gesellschaft, Sexualität, Politik oder andere aktuelle Themen beziehen. Hier dient die Fotografie oft als Medium, um komplexe Ideen zu visualisieren und den Betrachter zum Nachdenken anzuregen.
Warum Fotografie Kunst ist – Zusammenfassung
Die Fotografie ist Kunst, weil sie über die reine Abbildung hinausgeht. Sie ist ein Medium, das bewusst eingesetzt wird, um zu gestalten, auszudrücken und zu interpretieren. Vom Kampf der „Photo-Secession“ um Anerkennung bis hin zum gezielten Einsatz von Format, Perspektive, Einstellungsgröße und den verschiedenen Stilrichtungen – all dies zeigt, dass Fotografen wie Maler oder Bildhauer mit ihrem Medium „zeichnen“ und eine individuelle Vision schaffen. Künstlerische Fotografie erfordert technisches Know-how, handwerkliches Geschick und vor allem eine kreative Idee und die Fähigkeit, diese visuell umzusetzen und so beim Betrachter eine Reaktion hervorzurufen oder eine Botschaft zu vermitteln.
Häufig gestellte Fragen
Was unterscheidet künstlerische Fotografie von einem Schnappschuss?
Künstlerische Fotografie ist das Ergebnis bewusster Gestaltung und Interpretation durch den Fotografen. Sie nutzt gezielt Gestaltungsmittel wie Format, Perspektive und Einstellungsgröße, um eine bestimmte Aussage oder Wirkung zu erzielen. Ein Schnappschuss ist meist spontan und dient primär der Erinnerung oder Dokumentation ohne tiefere künstlerische Intention.
Welche Rolle spielte die „Photo-Secession“ für die Anerkennung der Fotografie als Kunst?
Die „Photo-Secession“ war eine einflussreiche Gruppe von Fotografen im frühen 20. Jahrhundert, die aktiv für die Anerkennung der Fotografie als eigenständige Kunstform kämpfte. Sie wandten sich von der Massenproduktion von Schnappschüssen ab und betonten stattdessen handwerkliches Können und eine „malerische“ Herangehensweise, die Komposition, Farbe und Ästhetik in den Vordergrund stellte.
Was versteht man unter Piktorialismus?
Der Piktorialismus war eine kunstfotografische Bewegung um 1900, deren Anhänger die Auffassung vertraten, dass die Fotografie an Wert gewinnt, wenn sie dem Stil der Malerei oder Zeichenkunst ähnelt. Dies wurde oft durch Techniken erreicht, die weiche Fokusse, spezielle Drucke oder manuelle Bearbeitung nutzten, um einen malerischen Effekt zu erzielen.
Welche Gestaltungsmittel nutzen Fotografen, um ein Bild künstlerisch zu gestalten?
Fotografen nutzen eine Vielzahl von Gestaltungsmitteln, darunter die Wahl des Bildformats (Hoch-, Quer-, Quadrat), die Perspektive und den Kamerawinkel, die Einstellungsgröße (Ausschnitt des Motivs), sowie Licht, Farbe, Komposition und Fokus, um nur einige zu nennen.
Nennen Sie einige Stilrichtungen der künstlerischen Fotografie.
Wichtige Stilrichtungen sind unter anderem die abstrakte Fotografie, Architekturfotografie, Landschaftsfotografie, Porträtfotografie, Stillleben Fotografie und die zeitgenössische Fotografie.
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