Die Begriffe „Künstliche Intelligenz“ und „Videoüberwachung“ lösen bei vielen Menschen erst einmal Skepsis oder sogar Alarm aus. Gerade im öffentlichen Raum wie in Zügen wirft der Einsatz solcher Technologien schnell Fragen nach Privatsphäre und Überwachung auf. Die Deutsche Bahn hat nun Pläne bekannt gegeben, die genau diese Bereiche berühren: Sie will Kameras und KI nutzen, um die Verteilung der Fahrgäste in den Zügen zu optimieren.

Der Hintergrund dieser Entwicklung ist primär die Corona-Krise. Während der Pandemie wurde die Einhaltung von Mindestabständen zu einem zentralen Thema. Auch wenn über die Wirksamkeit der Maskenpflicht diskutiert wird und Bundesverkehrsminister Scheuer ihre Ausweitung auf Fernzüge anstrebte, suchte die Bahn nach weiteren Wegen, das Infektionsrisiko zu senken. Ein Ansatzpunkt ist dabei die Steuerung der Passagierströme und die bessere Ausnutzung des vorhandenen Raumes im Zug.
Warum Kameras und KI im Zug?
Das Hauptziel der Deutschen Bahn ist klar formuliert: Sie möchte die Passagiere bestmöglich auf den verfügbaren Platz im Zug verteilen. Ein Sprecher der Bahn, beziehungsweise in diesem Kontext der Deutschlandfunk-Nova-Netzreporter Andreas Noll, fasste es so zusammen. Gerade in Stoßzeiten oder auf stark frequentierten Verbindungen kommt es oft vor, dass einzelne Wagen überfüllt sind, während andere noch freie Plätze bieten. Dieses Ungleichgewicht führt nicht nur zu Unbehagen bei den Reisenden, sondern erschwert auch die Einhaltung von Abstandsregeln.
Anstatt sich ausschließlich auf das Personal oder Durchsagen zu verlassen, die oft wenig konkrete Informationen liefern können, setzt die Bahn auf Technologie. Die Idee ist, mithilfe von Videoaufnahmen und intelligenter Software ein präzises Bild der Auslastung in Echtzeit zu erhalten. Dieses Wissen soll dann genutzt werden, um steuernd einzugreifen.
Die Technologie hinter der Zugüberwachung
Es ist wichtig zu wissen, dass Kameras in vielen Zügen der Deutschen Bahn bereits vorhanden sind. Diese dienen primär der Sicherheit, etwa zur Aufklärung von Straftaten. Bahn und Bundespolizei haben im Bedarfsfall Zugriff auf dieses Material. Neu ist nun die geplante Nutzung dieser bestehenden Infrastruktur für einen anderen Zweck: die Analyse der Fahrgastbewegungen und der Auslastung.
Dazu sollen die Aufnahmen der Kameras von einer speziellen Software verarbeitet werden. Diese Software, die auf Künstlicher Intelligenz basiert, analysiert die Videobilder, um zu erkennen, wie viele Personen sich in welchem Bereich des Zuges aufhalten. Sie kann potenziell auch Muster erkennen, etwa wo sich Menschen ballen oder welche Bereiche gemieden werden.
Die Zusammenarbeit erfolgt hier unter anderem mit dem KI-Start-up Brighter AI. Gemeinsam wurde eine technische Lösung entwickelt, die den Anforderungen des Datenschutzes gerecht werden soll. Dies ist der wohl kritischste Punkt bei diesem Vorhaben.
Datenschutz im Fokus: Anonymisierung der Daten
Die Nutzung von Videodaten im öffentlichen Raum ist in Deutschland und Europa streng reguliert, insbesondere durch die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Die Deutsche Bahn und Brighter AI betonen, dass ihr Projekt den strengen Vorgaben der DSGVO entspricht. Um die Privatsphäre der Fahrgäste zu schützen, kommt ein spezielles Verfahren zum Einsatz.
Direkt nach der Aufnahme durch die Kamera, noch im Zug, soll das Gesicht des Fahrgastes durch eine künstlich erzeugte Nachbildung ersetzt werden. Man spricht hier von einer Art „Gesichts-Platzhalter“ oder „künstlichem Gesicht“. Wenn die Videodaten dann zur weiteren Verarbeitung an ein Rechenzentrum übermittelt werden, arbeitet die Software nicht mehr mit den Originalbildern der Gesichter, sondern nur noch mit diesen anonymisierten Versionen. Diese künstlichen Gesichter sollen keine Rückschlüsse auf die Identität der Person zulassen.
Allerdings gibt es auch bei dieser Methode potenzielle Schwachstellen, insbesondere im Hinblick auf Metadaten. Wie im Handelsblatt-Bericht angemerkt wurde, fallen bei der Überwachung nicht nur Gesichtsdaten an. Auch wenn das Gesicht anonymisiert ist, können andere Informationen, sogenannte Metadaten, die Identifizierung einer Person unter bestimmten Umständen ermöglichen. Wenn beispielsweise eine Person immer zur gleichen Zeit im gleichen Zugabteil sitzt oder eine Reinigungskraft jeden Tag zur selben Uhrzeit im Betriebsbahnhof gefilmt wird, können diese Verhaltensmuster in Kombination mit anderen bekannten Informationen (die außerhalb des Kamerasystems liegen) theoretisch eine Identifizierung ermöglichen, selbst wenn das Gesicht künstlich ersetzt wurde. Die Bahn gibt an, auch für diese Probleme Lösungen zu entwickeln, konkrete Details dazu sind jedoch oft komplex und Gegenstand fortlaufender technischer und rechtlicher Prüfungen.
Die Testphase: Vom Labor auf die Schiene
Die ersten Tests für dieses System begannen bereits am 27. April 2020 in der S-Bahn Stuttgart. Zunächst fanden diese Tests in einem speziell präparierten Zug statt, der ohne echte Fahrgäste unterwegs war. Dies ermöglichte es, die Technologie unter kontrollierten Bedingungen zu erproben, ohne die Privatsphäre von Reisenden zu berühren. Erst zu einem späteren Zeitpunkt, Mitte Mai 2020, war geplant, normale Passagiere in die Tests einzubeziehen. Dies ist ein wichtiger Schritt, um die Technologie unter realen Bedingungen zu testen und zu sehen, wie sie mit den vielfältigen Situationen im Bahnbetrieb umgeht.
Diese schrittweise Einführung von Tests ist bei neuen Technologien, insbesondere solchen, die sensible Daten verarbeiten, üblich. Sie ermöglicht es, potenzielle Probleme frühzeitig zu erkennen und zu beheben, bevor das System flächendeckend ausgerollt wird.
Was soll mit den Erkenntnissen geschehen?
Die zentrale Frage, die sich stellt, ist: Was genau will die Bahn mit der Information anfangen, dass ein Zug ungleichmäßig besetzt ist? Welche konkreten Maßnahmen oder Handlungsanweisungen für die Passagiere sollen aus den Daten abgeleitet werden? Zum Zeitpunkt der Berichterstattung schien die Bahn diese Frage noch nicht abschließend geklärt zu haben oder zumindest nicht öffentlich kommuniziert zu haben. Dies führte zu Spekulationen unter den Nutzern.
Denkbar wären verschiedene Szenarien:
- Einfache Durchsagen: Eine Möglichkeit wäre eine allgemeine Durchsage wie „Bitte verteilen Sie sich im Zug“. Dies wäre zwar einfach umzusetzen, aber wahrscheinlich wenig effektiv, da die Passagiere nicht wissen, wohin sie sich verteilen sollen.
- Gezielte Informationen: Eine vielversprechendere Variante wäre, den Fahrgästen konkrete Informationen zu geben, etwa „In Wagen 13 gibt es noch vier freie Plätze“ oder „Bitte nutzen Sie auch die vorderen Abteile, im hinteren Zugteil ist die Auslastung hoch“. Solche Informationen könnten über Anzeigetafeln am Bahnsteig, in der App oder über Durchsagen im Zug bereitgestellt werden.
- Dynamische Information am Bahnsteig: Vor Einfahrt des Zuges könnten Anzeigen am Bahnsteig anzeigen, welche Wagen voraussichtlich weniger frequentiert sind.
- Lenkung durch Personal: Das Zugpersonal könnte gezielter dort eingesetzt werden, wo die Kameras eine hohe Auslastung melden.
Die genaue Umsetzung dieser Maßnahmen ist entscheidend für den Erfolg des Projekts. Eine reine Datensammlung ohne klare Strategie zur Nutzung der Erkenntnisse wäre wenig sinnvoll.
Kontroverse und offene Fragen
Das Projekt stieß nicht überall auf ungeteilte Zustimmung. Ein IT-Professor stellte im Handelsblatt die berechtigte Frage: Warum muss für die Abstandskontrolle und die Verteilung der Fahrgäste auf Videoüberwachung zurückgegriffen werden? Warum können nicht einfach mehr Kontrolleure eingesetzt werden, die die Abstände überwachen und die Fahrgäste ansprechen?
Diese Frage berührt die Debatte über den Einsatz von Technologie vs. menschlichem Personal. Während Technologie potenziell eine flächendeckende und kontinuierliche Überwachung der Auslastung ermöglichen kann, bieten menschliche Kontrolleure die Möglichkeit zur direkten Interaktion, zur Klärung von Fragen und zur situationsgerechten Ansprache der Fahrgäste. Zudem werfen menschliche Kontrolleure keine komplexen Datenschutzfragen im selben Umfang auf wie eine flächendeckende Videoanalyse.
Ein weiterer Kritikpunkt ist die bereits erwähnte Unklarheit bezüglich der konkreten Maßnahmen, die aus der Videoanalyse abgeleitet werden sollen. Solange nicht klar ist, wie die Bahn die gewonnenen Erkenntnisse nutzt, bleibt der Nutzen des Systems für die Fahrgäste und die Einhaltung der Abstände spekulativ.
Vergleich: Alte Nutzung vs. Neue Nutzung von Kameras im Zug
Merkmal | Alte Nutzung (Sicherheit) | Neue Nutzung (Auslastung/KI) |
---|---|---|
Zweck | Aufklärung von Straftaten, Beweissicherung | Analyse der Fahrgastauslastung, Steuerung der Passagierströme |
Zugriff auf Daten | Bahn & Bundespolizei (im Bedarfsfall) | KI-Software zur Analyse; Bahn (für abgeleitete Informationen) |
Datenverarbeitung | Speicherung (zeitlich begrenzt), manuelle Sichtung bei Bedarf | Automatisierte Echtzeit-Analyse, Anonymisierung/Maskierung |
Fokus | Einzelereignisse (Straftaten) | Gesamtlage (Auslastung im Zugverbund) |
Datenschutz-Herausforderung | Zugriffskontrolle, Löschfristen | Anonymisierung, Umgang mit Metadaten, Transparenz |
Häufig gestellte Fragen (FAQs)
Angesichts der Diskussion um Kameras und KI in Zügen tauchen bei Fahrgästen viele Fragen auf:
- Sind die Kameras im Zug immer eingeschaltet? Kameras zur Sicherheitsüberwachung sind in der Regel dauerhaft in Betrieb, die Aufzeichnung erfolgt digital. Für die KI-Analyse zur Auslastung werden diese bestehenden Kameras genutzt, die Aufnahmen werden aber speziell für diesen Zweck verarbeitet.
- Kann die Bahn mich durch die Kameras erkennen? Laut Bahn und Brighter AI soll das Gesicht direkt nach der Aufnahme anonymisiert werden, sodass im Rechenzentrum keine Rückschlüsse auf die Identität möglich sind. Der Umgang mit potenziell identifizierbaren Metadaten ist jedoch ein komplexes Thema.
- Was passiert mit meinen Daten? Die Original-Gesichtsdaten sollen direkt im Zug ersetzt werden. Die anonymisierten Daten zur Auslastung werden von der KI-Software verarbeitet. Die genauen Speicherfristen und Löschkonzepte für die anonymisierten Daten sind entscheidend für den Datenschutz.
- Warum macht die Bahn das? Die Bahn möchte die Auslastung ihrer Züge besser steuern, um den Fahrkomfort zu erhöhen, Abstände (insbesondere in der Corona-Krise) besser zu ermöglichen und potenziell den Betrieb effizienter zu gestalten.
- Ist das rechtlich erlaubt? Die Bahn und das beteiligte Start-up betonen, dass das System konform mit der DSGVO entwickelt wird. Der Einsatz von Videoüberwachung im öffentlichen Raum ist jedoch immer eine Abwägung zwischen Sicherheits-/Organisationsinteressen und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung.
Ausblick
Das Pilotprojekt in Stuttgart war ein erster Schritt, um die Machbarkeit und die Herausforderungen des Einsatzes von Kameras und KI zur Auslastungsanalyse zu untersuchen. Sollten die Tests erfolgreich verlaufen und die Datenschutz-Fragen zufriedenstellend gelöst werden, könnte eine Ausweitung auf weitere Strecken oder Zugtypen denkbar sein. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie die konkreten Maßnahmen zur Steuerung der Fahrgäste aussehen werden und ob diese tatsächlich die gewünschte Wirkung erzielen. Die Debatte über das Gleichgewicht zwischen technischer Effizienz und dem Schutz der Privatsphäre im öffentlichen Nahverkehr wird sicherlich weitergehen.
Letztlich hängt der Erfolg und die Akzeptanz solcher Systeme maßgeblich von der Transparenz der Bahn und der Gewährleistung ab, dass die Daten der Fahrgäste sicher sind und nicht missbraucht werden. Die Technologie bietet Potenziale für einen besseren Service, birgt aber auch Risiken, die sorgfältig gemanagt werden müssen.
Die Frage, ob Kameras im Zug echt sind, kann also mit einem klaren Ja beantwortet werden. Neu ist jedoch ihr geplanter Einsatzbereich und die damit verbundenen technologischen und datenschutzrechtlichen Herausforderungen, die durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz entstehen.
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