Bernd (1931–2007) und Hilla Becher (1934–2015) waren ein deutsches Künstlerpaar, das die Fotografie des späten 20. Jahrhunderts maßgeblich beeinflusste. Ihre Arbeit konzentrierte sich auf ein einziges, doch vielfältiges Thema: die Dokumentation der verschwindenden Industriebauten in Westeuropa und Nordamerika, die einst das Zeitalter der Industrialisierung prägten. Mit einem scheinbar objektiven Stil, der an frühe dokumentarische Fotografie erinnerte, aber auch Parallelen zu zeitgenössischem Minimalismus und Konzeptkunst aufwies, stellten sie die traditionelle Trennung zwischen Dokumentarfotografie und bildender Kunst in Frage.

Ihre Herangehensweise war methodisch und rigoros. Sie nutzten eine Großformatkamera, um Industriebauten wie Hochöfen, Fördertürme, Getreidesilos, Kühltürme und Gastanks mit großer Präzision, Eleganz und Leidenschaft festzuhalten. Diese standardisierte Praxis ermöglichte eine vergleichende Analyse der Strukturen. Ihre Fotografien präsentierten sie oft in Rastern oder Gittern von vier bis dreißig Bildern, die sie als „Typologien“ bezeichneten. Die Gebäude selbst sahen sie als „anonyme Skulpturen“.
Was haben Bernd und Hilla Becher fotografiert?
Das zentrale Sujet von Bernd und Hilla Becher war die Industriearchitektur. Sie widmeten sich mit akribischer Sorgfalt dem fotografischen Festhalten von Bauwerken, die das Industriezeitalter repräsentierten und zum Zeitpunkt ihrer Arbeit oft vom Abriss bedroht waren. Ihre Motive umfassten eine breite Palette industrieller Strukturen, darunter:
- Hochöfen (Blast Furnaces)
- Fördertürme (Winding Towers) von Bergwerken
- Getreidesilos (Grain Silos)
- Kühltürme (Cooling Towers)
- Gastanks (Gas Tanks)
- Wassertürme (Water Towers)
- Fachwerkhäuser des Siegener Industriegebietes
- Kalköfen
- Kohlebunker
Diese Bauwerke wurden nicht als pittoreske Ruinen oder Denkmäler einer vergangenen Zeit inszeniert, sondern in einer nüchternen, frontalen Perspektive und unter möglichst neutralen Lichtbedingungen fotografiert. Ziel war es, die reine Form und Struktur der Gebäude herauszuarbeiten, ihre architektonischen und technischen Merkmale zu betonen. Sie sahen in diesen funktionalen Bauten eine Art unbeabsichtigte Kunst, „anonyme Skulpturen“, geschaffen von Ingenieuren und Arbeitern, deren Form allein durch ihren Zweck bestimmt wurde.
Die Methode: Typologien und Serien
Das Besondere an der Arbeit der Bechers war nicht nur *was* sie fotografierten, sondern vor allem *wie* sie ihre Bilder präsentierten. Sie entwickelten die Methode der „Typologien“. Dabei handelte es sich um Gruppen von Fotografien ähnlicher Bauwerke, die in einem Raster angeordnet waren. Eine Typologie konnte beispielsweise verschiedene Wassertürme aus unterschiedlichen Regionen zeigen, nebeneinander platziert.
Diese serielle Anordnung ermöglichte dem Betrachter einen direkten Vergleich der Formen, Konstruktionen und Materialien. Es wurde deutlich, wie ähnliche funktionale Anforderungen zu unterschiedlichen architektonischen Lösungen führten. Die Standardisierung in der Aufnahme (gleiche Perspektive, ähnliches Licht, Schwarz-Weiß-Format) war entscheidend für die Vergleichbarkeit. Diese Methode spiegelte den seriellen Ansatz der Konzeptkunst wider und lenkte die Aufmerksamkeit weg vom einzelnen Bild als einzigartigem Meisterwerk hin zur vergleichenden Betrachtung als Teil einer größeren Studie.
Die Typologien der Bechers waren nicht nur eine Präsentationsform, sondern auch Ausdruck ihrer wissenschaftlichen Herangehensweise an ihr Thema. Sie sammelten, katalogisierten und verglichen die Bauwerke wie ein Archivar oder Wissenschaftler, der Daten sammelt und ordnet. Dieser Ansatz verlieh ihrer Arbeit eine besondere Strenge und Objektivität, die sie von subjektiveren oder expressiveren Formen der Fotografie abhob.
Ihre Technik: Die Großformatkamera
Für ihre Arbeit setzten Bernd und Hilla Becher konsequent eine Großformatkamera ein. Diese Wahl war entscheidend für ihren charakteristischen Stil und die Qualität ihrer Bilder. Eine Großformatkamera, oft eine Fachkamera auf einem Stativ, verwendet große Filmformate (z.B. 4x5 Zoll oder 8x10 Zoll).
Die Vorteile einer Großformatkamera für ihre Zwecke waren vielfältig:
- Hohe Auflösung und Detailreichtum: Der große Film ermöglichte eine extrem hohe Auflösung und die Wiedergabe feinster Details der oft komplexen Strukturen der Industriebauten.
- Kontrolle der Perspektive: Großformatkameras verfügen über Verstellmöglichkeiten (Shifts und Tilts), mit denen die Perspektive korrigiert werden kann. Dies war entscheidend, um die Gebäude frontal und ohne stürzende Linien aufzunehmen, was zu dem von ihnen angestrebten objektiven Erscheinungsbild beitrug.
- Langsame, methodische Arbeitsweise: Das Arbeiten mit einer Großformatkamera ist zeitaufwendig und erfordert Sorgfalt. Dies passte gut zu ihrer methodischen und präzisen Herangehensweise an ihr Sujet.
Die Verwendung dieser Technik unterstrich ihren dokumentarischen Anspruch und ermöglichte es ihnen, Bilder von außergewöhnlicher Klarheit und Präzision zu schaffen, die die architektonischen Qualitäten der Gebäude in den Vordergrund stellten.
Einfluss und Vermächtnis: Die „Becher-Schule“
Bernd Becher übernahm 1976 eine Professur für Fotografie an der Kunstakademie Düsseldorf. Zusammen mit Hilla prägte er dort eine ganze Generation von Fotografen. Diese Gruppe von Studenten wurde international als die „Becher-Schule“ bekannt und zählt heute zu den bedeutendsten Vertretern der deutschen Gegenwartsfotografie.
Zu den bekanntesten Absolventen der „Becher-Schule“ gehören Namen wie:
- Andreas Gursky
- Thomas Struth
- Candida Höfer
- Thomas Ruff
- Jörg Sasse
- Axel Hütte
- Elger Esser
Die Bechers vermittelten ihren Studenten nicht nur technische Fähigkeiten, sondern vor allem eine konzeptuelle Herangehensweise an die Fotografie, eine Auseinandersetzung mit Serien und Typologien sowie eine Reflexion über die Rolle des Mediums. Während einige ihrer Schüler den dokumentarischen Ansatz weiterführten (z.B. Struths Stadtansichten, Höfers Interieurs), entwickelten andere die Ideen in neue Richtungen (z.B. Gurskys großformatige, oft digital bearbeitete Bilder, Ruffs experimentelle Porträts und Abstraktionen).
Die Arbeit der Bechers und ihrer Schüler trug maßgeblich dazu bei, die Fotografie als gleichberechtigte Kunstform neben Malerei und Skulptur im Kunstbetrieb zu etablieren. Ihre Teilnahme an der documenta 5 im Jahr 1972 war ein wichtiger Schritt für ihre internationale Anerkennung und die Akzeptanz ihrer seriellen, dokumentarischen Fotografie im Kunstkontext.

Neben ihrem künstlerischen und lehrenden Wirken engagierten sich Bernd und Hilla Becher auch für den Erhalt der Industriekultur. Ihr Einsatz gegen den Abriss der Zeche Zollern II in Dortmund beispielsweise war ein wichtiger Impuls für ein verändertes Bewusstsein für den Wert dieser Bauwerke als Industriedenkmäler, lange bevor viele davon als Teil des Weltkulturerbes anerkannt wurden.
Kurze Biografie
Bernd Becher wurde 1931 in Siegen geboren und stammte aus einer Handwerkerfamilie. Er absolvierte eine Lehre als Dekorationsmaler und studierte später freie Grafik und Typografie. Schon früh begann er, Industriebauten zu zeichnen und zu malen, bevor er 1957 zur Fotografie als Dokumentationsmittel überging.
Hilla Wobeser wurde 1934 in Potsdam geboren und zeigte schon als Kind Interesse an der Fotografie, gefördert von ihrer Mutter, die selbst Fotografin war. Sie absolvierte eine Fotografenausbildung und arbeitete unter anderem in einem renommierten Atelier in Potsdam, wo sie Erfahrung in der Architekturfotografie sammelte, und später für eine Luftbildfirma.
Bernd und Hilla lernten sich 1957 in einer Werbeagentur in Düsseldorf kennen und heirateten 1961. Gemeinsam entwickelten sie ihre einzigartige Methode der seriellen Industriefotografie. Beide studierten zeitweise an der Kunstakademie Düsseldorf, wo Hilla half, die erste Fotowerkstatt einzurichten.
Ihre gemeinsame Arbeit, ihre Lehrtätigkeit und ihr Engagement für die Industriekultur prägten ihr Leben bis zu ihrem Tod. Bernd Becher starb 2007, Hilla Becher im Jahr 2015.
Beispiele fotografierter Industriearchitektur
Gebäudetyp | Deutsche Bezeichnung |
---|---|
Blast Furnaces | Hochöfen |
Winding Towers | Fördertürme |
Grain Silos | Getreidesilos |
Cooling Towers | Kühltürme |
Gas Tanks | Gastanks |
Water Towers | Wassertürme |
Häufig gestellte Fragen zu Bernd und Hilla Becher
Was ist die „Becher-Schule“?
Die „Becher-Schule“ bezeichnet die Gruppe von Fotografen, die in den 1970er bis 1990er Jahren an der Kunstakademie Düsseldorf bei Bernd Becher studierten und von seinem und Hillas Werk und Lehre stark beeinflusst wurden. Dazu gehören heute international bekannte Künstler wie Andreas Gursky, Thomas Struth, Candida Höfer und Thomas Ruff.
Warum sind ihre Fotos schwarz-weiß?
Bernd und Hilla Becher wählten das Schwarz-Weiß-Format, um die Form, Struktur und Textur der Industriebauten zu betonen, ohne die Ablenkung durch Farben. Dies unterstrich ihren objektiven, dokumentarischen Ansatz und die Konzentration auf die architektonischen Qualitäten der „anonymen Skulpturen“.
Was sind Typologien in der Fotografie der Bechers?
Typologien sind die von den Bechers entwickelten Anordnungen von Fotografien. Sie zeigten Bilder ähnlicher Bauwerke (z.B. nur Wassertürme oder nur Hochöfen) in einem Raster nebeneinander, um einen direkten Vergleich der verschiedenen Formen und Konstruktionen zu ermöglichen.
Welche Kamera benutzten Bernd und Hilla Becher?
Bernd und Hilla Becher benutzten für ihre Dokumentation der Industriebauten hauptsächlich eine Großformatkamera. Diese ermöglichte ihnen die hohe Detailgenauigkeit, Schärfe und die Kontrolle über die Perspektive, die für ihren präzisen und objektiven Stil charakteristisch waren.
Das Werk von Bernd und Hilla Becher bleibt ein Meilenstein in der Geschichte der Fotografie. Ihre akribische Dokumentation der Industrielandschaft, ihre innovative serielle Präsentation und ihr prägender Einfluss auf nachfolgende Generationen von Künstlern sichern ihnen einen festen Platz in der Kunstgeschichte. Ihre „Typologien“ haben nicht nur die Fotografie als Kunstform neu definiert, sondern auch dazu beigetragen, die architektonische Bedeutung und den historischen Wert von Industriebauten neu zu bewerten.
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